Himmel ohne Sterne
Manches Mal lohnt es sich, am Ende anzufangen – in diesem Fall am letzten Abend in den Staaten. In Nashville, als alle Verpflichtungen erfolgreich abgehakt waren. Nachdem mit jedem gesprochen und alle verabschiedet worden waren.
Entgegen allen Empfehlungen war ich nicht-motorisiert in die Stadt aufgebrochen, mit dem dekorativ-auffälligen Armeerucksack auf der Schulter. Nach einem wechselseitigen Lächeln an der Rezeption war ich verabschiedet, konnte durch die sonnendurchflutete Betonwüste streunen und mir das timeout nehmen, dass ich nach dieser Woche dringend nötig hatte: einfach einen halben Nachmittag alleine unterwegs sein.
Eine kurze Ewigkeit später überraschte mich dann die einbrechende Dunkelheit. Nachdem ich stundenlang eine überraschend menschenleere Kunstlandschaft durchquert hatte, blinkte vor mir plötzlich ein schwaches grünes Pünktchen auf. Ein kleines Irrlicht, das schwerelos aus dem gepflegten Rasen aufstieg, einen kurzen Schweif aus fahlgrünem Nichts hinter sich herzog – und schlagartig verblasste, bevor es die magische Schwelle am Horizont überstieg, jenseits derer es mit den prachtvoll funkelnden Lichtern der Großstadt konkurrieren müsste.
Aus den langen Gedankengängen gerissen, blinzelte ich – doch immer wieder sprangen sie an einer anderen Stelle aus dem Gras, vor dem langsam verblassenden Sonnenuntergang immer deutlicher sichtbar. Wirkte es anfangs noch so, als hätten mysteriöse Wiesenbewohner schließlich den ersten Schritt aus der Wiege gewagt und wären mit zahllosen Raketenstarts in kniehohe Umlaufbahnen ins space age übergetreten, verändern sich die Leuchtspuren mit der Zeit, nähern sich ballistischen Kurven an: Miniaturmeteore in Kniehöhe. Mit einem leisen Rascheln landet der Rucksack auf der noch warmen Erde, Sekunden später liege ich daneben, an einen der alten Baumstämme gelehnt – versunken in den Anblick vor mir.
Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man als einer der weniger Fußgänger einer mehrspurigen Straße folgt. Bei mir stellt sich innerhalb von Minuten eine ganz bestimmte Stimmung ein, die mich vieles um mich herum nicht mehr wahrnehmen lässt, wie ein Filter, eine buffer zone rund um micht ein vertrautes Gefühl, auf das ich mich immer wieder verlassen kann, wenn ich alleine mit einem Rucksack losziehe. Der routinierte Trott wird nur von kurzen Sprints unterbrochen, wenn eine der querenden avenues erreicht ist, mit einem wachsamen Auge auf die zahlreichen anderen, beräderten Verkehrsteilnehmer. Der Blick fällt dabei immer wieder auf seltsame ungewohnte Anblicke – auf police officers auf schweren Motorrädern, beispielsweise. Wenn dann noch ein easy rider auf seiner Harley auftaucht, die Arme deutlich über Kopfhöhe, alleine die Gabel länger als gewisse japanische Kleinwagen, neben einem am Straßenrand anhält und mit einem lässigen Winken unzählige Lederstreifen zum Flattern und eben jenen officer neben sich zum Anhalten bringt, verlangsamt sich der Schritt unwillkürlich. Eine Wegbeschreibung zum Hard Rock Cafe?
Bin ich nicht gerade von dort aufgebrochen?
Mein Streifzug war weitgehend ungeplant – als ungefähres Ziel hatte ich anfangs die Country Music Hall of Fame vor Augen, erreichte sie aber erst, nachdem sie schon geschlossen hatte. Danach folge ich nur meiner Intuition, lasse mich von Grafittis zu einer Brücke leiten, sehe das Stadion zu meiner Linken, downtown zur Rechten, gönne mir auf einer Bank den Luxus, einfach nur in der Sonne zu sitzen und diversen Gedanken nachzuzängen. Als einige leichte Windböen plötzlich von weitem vertraut deutsche Worte herbeitragen, breche ich wieder auf, betreibe im Vorbeigehen Smalltalk mit einem local, den ich dank kräftigem Südstaatenakzent kaum verstehe. Überhaupt lächeln mir heute verdächtig viele Menschen zu – sogar ein police officer grüßt freundlich. Über die Bedienung im Hard Rock Cafe wundere ich mich dann aber doch. Wenn man die ehrwürdig-distanziert-desinteressierten Angestellten in den Wiener Kaffeehäusern gewohnt ist, muss man sich an gewisse Verhaltensweisen erst gewöhnen. Dass eine junge Frau in meinem Alter bei der Aufnahme der Bestellung plötzlich kaugummikauend mir gegenüber am Tisch sitzt, kann ich noch ungerührt zur Kenntnis nehmen – man kommt sich zumindest nicht ganz so von oben herab behandelt vor. Dass ich im weiteren Verlauf meines Aufenthaltes mit Baby und Sweetheart angesprochen werde und zwischendurch im Vorbeigehen bei der Frage, ob "everything o-kay with yah?" an der Schulter festgehalten werde, reißt mich dann doch etwas aus der stoischen Ruhe. Während die untergehende Sonne also erst die ohnehin roten Backsteinhäuser noch röter färbt, um ihre Wirkung später dann nur noch auf den höher gelegenen Glasfassaden zu entfalten, verschwindet erst ein Burger von meinem Teller, danach leert sich dann ein Cocktail – parallel dazu füllen sich einige Blätter im Tagebuch, sowie ein paar Postkarten. Wieder Muse, den vorher angerissenen Gedanken konsequent bis zum Ende zu folgen. Als ich schließlich aufbreche, werfe ich noch einen letzten Blick zurück, lasse die rote Schrift noch einmal ein Geisterbild auf meiner Netzhaut hinterlassen: "No drugs and nuclear weapons allowed..".
Planlos ziehe ich im elektrischen Halbdunkel weiter, bis ich aus den Augenwinkeln ein kirchenähnliches Gebäude sehe, eingerahmt von den beiderseits aufragenden Businesstürmen, im Hintergrund die übersättigten, tiefen Farbschattierungen eines Sonnenunterganges, der in den letzten Zügen liegt. Wieder einmal wundere ich mich über die Einsamkeit – die einzigen Menschen, die ich sehe, sitzen auf Parkbänken und folgen meinen scheinbar zielstrebigen Bewegungen über den weiten, mit Steinen ausgelegten Platz. Vorbei an erleuchtenden Springbrunnen, auf das Capitol zu, das auf seinem Hügel über allem thront. Davor eine Statue mit stechendem Blick, mit einem Schwur auf die Heimaterde – in der der Autor wie in einem warmen Schoß ruhen wollte. Sei's ihm vergönnt.
Bei der Umrundung des captiol hills offenbart sich unverhofft ein wundervolles Panorama – und die kleinen grünen Senkrechtstarter. Fireflies, die den Hang in ein unglaublich helles, geisterhaftes Feuerwerk tauchen, während die Skyline vor dem langsam ausglühenden Horizont ihre eigene Schönheit entfaltet. Womöglich einer der seltenen Momente, in denen die äußere Umgebung das Innere widerspiegelt: direkt unter und um mich die Natur, hinter mir die in himmelhoch Beton gegossene Lebensart, vor und unter mir ein Lichtermeer. Ein Bahnhof, ein Highway, traffic mit unzähligen Destinationen. Und doch muss ich mich irgendwann losreißen, zurückkehren, nach einer kleinen Ewigkeit. Alleine mit meinen unerreichbaren Irrlichtern, mit den fliehenden Gedanken. Zurück ins Hotel, eine Stunde lang auf fremden Pfaden durch die pulsierende Nacht der Großstadt, in Gedanken noch immer das grüne Blitzen vor Augen, ungleich faszinierender als die Lichter der Stadt, die achtlos die tiefschwarze Ewigkeit in das eintönige Korsett eines breiigen Graus zwingen.
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