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6.10.06

Anschauungsunterricht

Fassunglos fällt der Blick auf einen lehmigen Einschnitt im Hang, aus dem schmutzig braunes Wasser ins Tal blutet. Auf kruden Holzgerüsten stehen Gestalten, bewegen sich eckig. Wie Holzfiguren, Kinderspielzeug, Scherenschnitte. Übermannslange Baumsägen, von zwei Menschen in Bewegung gehalten: einer in der Grube unter dem Baumstamm, der andere darüber. Glänzende Rinnen lassen den Weg des Holzes erahnen, krebsartig ziehen sich die lehmigen Forstwege in den umliegenden Wald. Mahnend stehen die letzten Baumriesen, gealterte Zeugen eines ersten, jahrhundertalten Exodus' über kahlgeschlagenen Hängen und buschgroßem Nachwuchs, schnellwachsende Nadelhölzer an Stelle kolonial-deutscher Eukalyptusplantagen, an Stelle endemischer Regenwaldhölzer.

Die Distanz schluckt den Lärm, versteckt Details und zeigt im Panorama doch nur einen Bruchteil des Geschehens, der Geschichte. Man muss noch nicht einmal näher kommen, um die kleineren Hinweise zu sehen, in Wahrheit ist seit Stunden absehbar, worauf man zugeht. Die eigentlich schmale Forststraße, auf der man steht? Eine von vielen. Die ausgespülten Gräben und abrutschenden Böschungen entlang des Weges, die vertrocknenden Ästen mit Schnittflächen an den Enden, gesplittertes Holz? Kilometerweit der gleiche Zustand. Quadratkilometer voller Monokulturen, plötzlich fehlende Fauna? Keine Überraschung.
Es ist seltsam, wie plötzlich und nachdrücklich einem manchmal bestimmte Probleme vor Augen geführt werden. Ist Raubbau ein zu hartes Wort? Womöglich.


Dass man plötzlich viel Zeit hat, wenn man lange Strecken zu Fuß zurücklegt, ist keine neue Erkenntnis. Welchen Unterschied das machen kann, vergisst man aber immer wieder. An den Anblick intensiv bewirtschafteter Landschaften habe ich mich hier in Tansania allmählich gewöhnt, an Hühner, die unter Bananenbäumen scharren, an Ziegen- und Kuhherden, die plötzlich das Fahrrad oder den Jeep auf der Straße umringen. Das braune Wasser des Kilomberos, die erodierenden Ufer: eine stets mahnende Erinnerung an die allgegenwärtige Bodenerosion, den Verlust der fruchtbaren Erde.
Aber nirgends war es so deutlich wie in den kleinen Dörfern an den Hängen in den Usambara Mountains. Abhänge, an denen ich nur mühsam hochklettern könnte: genutzt für Maisfelder. Ausgerechnet Mais. Eine Pflanze, deren Wurzeln den Boden so schlecht fixiert, dass sogar österreichische Felder in leichter Hanglange beim ersten schweren Regenguss fast ins Tal gespült werden. Man schaue sich nur im Herbst ein Maisfeld an – wie weit stehen die Wurzeln aus der Erde, wieviel höher muss der Boden noch vor wenigen Monaten gewesen sein? Hier, mit tropischen Regen? Himmel hilf... An manchen Stellen ist der Einfluss niederländischer Entwicklungshelfer erkennbar: mit Gräsern und andern Pflanzen befestigte Plateaus, quer zum Hang laufende Befestigungen, gezielt gepflanzte Hecken. Alles viel zu selten.

An anderer Stelle reichen wenige Schritte, um im alten, grünen Meer zu verschwinden. Mit dem Erreichen der Forest Conservation Zone ändert sich alles. Baumriesen, dichtes Unterholz, teilweise könnte man den Arm seitlich ausstrecken und die Hand im Dickicht nicht mehr erkennen. Was über und neben einem raschelt, ist meist nicht zu ergründen: Affen, Nagetiere? Plötzliche Stille, die laute Stille der Natur, Konzentration auf die Äste und Ranken vor einem: Frieden. Selbst die alten Eukalyptusplantagen versprühen noch einen Hauch Urtümlichkeit, der beim Auftauchen der Baumfarne schnell erstirbt: kein Hauch, hier weht eine steife Briese, die eine kurze Gänsehaut aufkommen lässt.

Nach wenigen Stunden geht der Aufenthalt in diesem Refugium bereits zu Ende, weicht das dichte Unterholz abrupt nadelgepolsterter Leere: Weichholz-Plantagen. Mit der Erinnerung an gerade Erblicktes hat sich eine Ahnung eingenistet, wie es hier einmal ausgesehen haben könnte, nur schwer lässt sich das mit der aktuellen Situation in Übereinstimmung bringen.
Die kognitive Dissonanz schwingt noch lange nach, aber die wirklich harschen Misstöne lassen noch auf sich warten. Noch ist das eingangs erwähnte Sägewerk nicht im Blickfeld aufgetaucht, noch waren die Strassen überschaubar breit, Trampelpfade zwischen Feldern, einspurige Forststraßen, wie man bei uns sagen würde. Noch haben wir keine überbreiten Trassen für schwere Lkws betreten, noch nicht. Als genau das passiert, ist klar, was in Kürze zu erwarten ist. Überraschung? Nein. Laut unserem Guide sind es sogar Einheimische, die dem Staat das Land abgekauft (gepachtet?) haben – keine ausländischen Investoren. Ein kurzer schweifender Blick über die eintönig grünen, gleichmäßig hoch bewachsenen Hügel rundherum lässt Zweifel aufkommen, seien sie berechtigt oder nicht. Der Weg führt weiter, immer weiter durch die immer gleiche Landschaft – rotbraune Stämme, hellgrün schillernde Nadeln. In ihrer scheinbar endlosen Abfolge aben sie etwas Hypnotisches. Die gleichmäßige Verschiebung der Stämme gegeneinander beim Vorbeigehen – wer auch immer hier gepflanzt hat, hielt sich exakt an ein geometrisches Muster. Alle drei Meter ein Baum? Bergauf, bergab – überall die gleichen Pflanzen.


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